Die goldene Wiege im Burggraben
Oder: Die Zerstörung der Burg Calbe
Die Landleute im Calbischen Werder erzählen, mit dem Verfall der Burg Calbe habe es folgende Bewandtniß gehabt: Ein Herr von Alvensleben hatte längere Zeit mit den Junkern der Umgegend in Fehde gelegen. Endlich war ein Vergleich verabredet, und zwar sollte dieser bei der auf Schloss Calbe demnächst stattfindenden Tauffeier eines Söhnleins des Burgherrn geschlossen werden. Viele Edelleute kamen als Gäste und ritten auf dem engen Passe der Burg zu; friedlich überschritten sie die Zugbrücke; aber in demselben Augenblicke stürzten auch ihre Knechte, welche in einem Hinterhalt gelegen hatten, hervor, überwältigten die Burgmannschaft und ließen dieselbe über die Klinge springen. Dem Herrn des Schlosses aber hieben sie die Hände bis zur Hälfte, der Burgfrau die Daumen ab: nur das Kind, dessen Tauffeier die Veranlassung zu dem Überfall abgegeben hatte, soll von seiner Amme in einem Nachen über den breiten Burggraben gerettet worden sein. In den letzteren fiel bei der Flucht die goldene Wiege des Knäbleins; dort harrt sie heut noch des glücklichen Finders. (In mondhellen Winternächten, wenn es richtig kalt ist und das Mondlicht sich im Eis spiegelt, meinen einige Kalbenser, die goldene Wiege tief unten im Burggraben erkannt zu haben.)
In der Kirche zu Calbe aber, unterhalb des Orgelchors, sieht man den Burgherrn und seine Gemahlin mit den abgehauenen Gliedmaßen in Lebensgröße dargestellt. Natürlich meint die Sage ein verstümmeltes Alvensleben´sches Grabmal, die abgeschlagenen Finger des Ritters lagen ehedem in seinem, von großen Straußenfedern überschatteten Helme. Seit jenem Überfalle, meint die Sage, liegt Schloß Calbe, welches der Gewalt unüberwindlich gewesen wäre, in Trümmern.
Quellen:
- Dietrichs/Parisius (1883): Bilder aus der Altmark II, S. 59-60,
- Lehrmann, in: Altmärkischer Sagenschatz, 1908, S. 171-172.
- Geschichten über Kalbe/Milde (www.kalbe-milde.de)
Anmerkungen zum historischen Kern:
Das o.g. Grabmal dürfte das Epitaph von Ludolf XI v. A. (+ 1589) und seiner Frau Anna v. d. Schulenburg (+ 1604) sein, das sich an der Südwand des Altarraums vor der Orgelempore befindet. Detaillierte Beschreibung der Grabdenkmäler in der Stadtkirche St. Nikolai in „Geschichten über Kalbe“ (www.kalbe-milde.de).
Die historischen Ereignisse im Dreißigjährigen Krieg, die zur Schleifung der Burg Calbe führten, wurden von Dietrichs/Parisius wie folgt beschrieben:
Kurfürst George Wilhelm war zu der merkwürdigen, aber keineswegs ungerechtfertigten Überzeugung gelangt, dass das feste Haus der Alvensleben dem Land mehr zum Schaden als zum Vorteil gereiche. Er erließ deshalb den Befehl, dasselbe abzutragen. Den Söhnen des Geschlechts war indessen das alte Schloß so sehr ans Herz gewachsen, dass sie die dringendsten und flehentlichsten Vorstellungen einreichten, um die Burg zu retten, in welcher die Vorfahren so lange gesessen hatten; ihre beweglichen Worte aber fanden kein Gehör bei dem haltlosen Manne, welcher damals das Scepter Brandenburgs führte. So war es denn um das Schloß Calbe geschehen; am 19. August 1632 erschienen die Landleute des gesamten Gerichtes auf der Burg, und die Niederreißung der Baulichkeiten und Befestigungen begann. Mit tiefem Schmerze mögen die Alvensleben auf die Greuel der Verwüstung hingeblickt haben: die alte Herrlichkeit der drei Rosen des Geschlechts war für immer dahin, nachdem mit dumpfen Klange die Giebel und Zinnen, die hohen Gewölbe und die zierlichen Erker in den Schloßhof niedergestürzt waren…….Das Schloß der Alvensleben selbst hat sich, nachdem dasselbe einmal gebrochen war, nicht wieder aus den Trümmern erhoben. Die späteren Herren aus diesem Hause haben sich auf ihrem Rittersitze Calbe ein neues Heim erbaut. Über den schönen Trümmern von Calbe aber wacht liebevolle Fürsorge und bewahrt dieselben vor völligem Zusammensturze. Und so wird der hohe Treppenturm, dieser Giebel mit seinen schlichten gotischen Formen wohl noch Jahrhunderten trotzen, – anziehende Denkmäler altmärkischer Feudalherrlichkeit und Illustrationen der schweren Vergangenheit des Landes zu gleicher Zeit (Dietrichs/Parisius II, S. 58/59).